Zuerst veröffentlicht in Kiesbye´s BIERKULTURMAGAZIN Nr.50

Wie entsteht eigentlich das Bierbouquet im Glas? Weinkenner mögen mir die Respektlosigkeit verzeihen, aber ich habe keine Bedenken, ihren Begriff „Bouquet“ auf Bier anzuwenden! Als Bouquet bezeichnet man im Allgemeinen das komplexe Zusammenspiel einzelner Aromastoffe zu einem Gesamteindruck, der individuellen Charakter verleiht. Man könnte es auch als Aromen-Depot (oder neudeutsch vielleicht als „Aroma-Cloud?“) beschreiben, denn das Bouquet bildet sich über der Flüssigkeitsoberfläche aus und verweilt einige Zeit im Glas, bevor es von uns genussvoll inhaliert oder von einem lauen Lüftchen entführt wird.

Der Beitrag eines Aromastoffs zum Aromaprofil dieser Duftwolke steigt mit dessen Konzentration und der Empfindlichkeit unserer Geruchsrezeptoren gegenüber seinen Molekülen. Anzahl und Typ der Chemorezeptoren unserer Sinnesorgane bestimmen die individuelle / persönliche Geruchsschwelle – also die Mindestkonzentration, die ein Aromastoff aufweisen muss, um eine Sinneswahrnehmung auszulösen. In Bezug auf das Bouquet ist dabei anzumerken, dass auch das Zusammenspiel unterschwelliger Spuren von Aromastoffen eine Geruchsempfindung auslösen kann.

Aber um überhaupt etwas zu bewirken, müssen die Aromastoffe erst einmal die Flüssigkeitsoberfläche überwinden, um in die Duftwolke (das Bouquet) einzudringen.

Flüchtigkeit

Flüchtigkeitskonstanten einiger Aromen
Aromastoff KH @25°C
Pa*L/mmol
Geruch nach…
Pronyl-Lysin n.a.(<1?) Melanoidin
(Brotkruste)
2,3-Diethyl-
5-methylpyrazin
1,2 Röstaroma
Isoamylalkohol 1,4 Fuselalkohol
Diacetyl 1,8 Butteraroma
Linalool 5,0 blumig
Geraniol 5,9 zitrusartig
2-isobutyl-
3-methoxypyrazin
5,9 Röstaroma
Ethylacetat 16,1 Ester,
Lösungsmittel
Isoamylacetat 38,5 Banane
DMS 200 Kohlgemüse

Da wäre zunächst einmal die Flüchtigkeit bzw. Volatilität des Aromastoffs zu berücksichtigen, physikalisch beschrieben als Dampfdruck. Mit zunehmender Temperatur steigt die kinetische Energie der Moleküle. Gleichzeitig verringert sich die als Barriere wirkende Oberflächenspannung, wodurch mehr Moleküle aus dem Flüssigkeitsverband freigesetzt werden. Nehmen wir an, die Flüssigkeit befindet sich in einem absolut luftleeren, geschlossenen Gefäß, so würde sich über der Flüssigkeit allmählich ein Dampfdruck aufbauen, bis schließlich ein temperaturabhängiges Gleichgewicht (der Sättigungsdampfdruck) erreicht ist.

Der englische Mediziner und Chemiker William Henry berichtet 1803 in der Royal Society of London über Experimente zur Löslichkeit von Gasen bei unterschiedlichen Temperaturen und Drücken. Das nach ihm benannte „Henry-Gesetz“ ist auch für flüchtige Stoffe (Aromastoffe) gültig und sagt aus, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen der Konzentration eines Aromastoffes in der Flüssigkeit und dessen Konzentration (in diesem Fall „Partialdruck“) in der Gasphase (also im Bouquet). Die daraus abgeleitete Flüchtigkeitskonstante KH beschreibt die Verteilung zwischen Gasphase und Flüssigkeit, die je nach Sättigungsdampfdruck und Löslichkeit des Aromastoffes sehr unterschiedlich ausfallen kann. Ist die Konzentration eines Aromastoffs im Bier bekannt, kann mit KH dessen Anteil im Bouquet (Partialdruck) berechnet werden. Umgekehrt lässt sich z.B. aus der Geruchsschwelle einer Substanz in der Gasphase deren (temperaturabhängige!) kritische Konzentration in der Flüssigkeit berechnen.

Die aus den Quellen [1,2] abgeleitete Tabelle „Flüchtigkeitskonstanten einiger Aromen“ gilt nur für reine Stoffe in verdünnter wässriger Lösung. Eine grobe Abschätzung von KH erhält man aus dem Verhältnis Sättigungsdampfdruck zu Löslichkeit. Im Bier wird die Löslichkeit durch Mineralstoffe (Salinität) und Dextrine (Restextrakt) i.d.R. herabgesetzt. Dadurch verschiebt sich die Verteilung in Richtung Gasphase, wodurch sich die Flüchtigkeitskonstante erhöht.

Der Dampfdruck steigt mit zunehmender Temperatur. Wie sich das auf den Anstieg von KH auswirkt, hängt wiederum davon ab, wie sich die Löslichkeit mit steigender Temperatur ändert: Steigt sie an, wird die Zunahme flacher ausfallen als bei gleichbleibender oder sinkender Löslichkeit. Bei den ausgewählten Aromastoffen schwanken die Temperaturkoeffizienten etwa um den Faktor 2 zwischen 3.500K (DMS) und 7.200K (Isoamylalkohol). Das zeigt uns, dass die Trinktemperatur einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bouquets hat und erklärt auch den Unterschied zwischen orthonasalen und retronasalen Wahrnehmungen. Die Datenbasis ist noch sehr mager, aber die Erfahrung zeigt, dass bei zunehmender Erwärmung Ester und höhere Alkohole im Aromaprofil dominanter werden.

Schaumbildung verstärkt Aromen

Obige Zusammenhänge beschreiben den statischen Gleichgewichtszustand, wie er sich allmählich im Bouquet über stillen Getränken wie Wein ausbildet. Nun ist Bier aber ein lebhaft-dynamisches Getränk. Es perlt, schäumt, befindet sich ständig in Bewegung und das Bouquet liegt nicht auf einer spiegelglatten Oberfläche, sondern über einer Schaumkrone. Durch die Bläschen, die halb eingetaucht obenauf schwimmen, wird die Grenzfläche zwischen Bier und Bouquet in etwa verdoppelt, wodurch der Stoffaustausch beschleunigt und der Gleichgewichtszustand schneller erreicht wird.

Darüber hinaus erhöht sich der Innendruck eines Bläschens durch dessen Oberflächenspannung und zwar umso stärker, je kleiner dessen Durchmesser ist. Diese von Lord Kelvin 1871 beschriebenen Krümmungseffekte erhöhen den Dampfdruck (also die Flüchtigkeit) an der Aussenfläche eines Bläschens – die Aromastoffe werden aus dessen flüssiger Wandung quasi rausgedrückt …und das Beste kommt zum Schluss: Es gibt jede Menge Nachschub in Form nachrückender Bläschen, die noch mit Aromastoffen übersättigt sind, denn die Bläschen spielen auch eine „tragende“ Rolle beim Transport von Aromastoffen in die Schaumkrone!

Schaumbildung

Beim Aufsteigen reichern sich die Bläschen an ihren Grenzflächen mit oberflächenaktiven Stoffen an. Das sind in erster Linie Substanzen, die hydrophobe (wasserabweisende) Effekte zeigen. Ihre Moleküle bilden keine echte Lösung auf molekularer Ebene, sondern schließen sich mit ihren wasserabweisenden Enden zusammen. Diese Aggregate (Mizelle, s.Grafik) gehören zu den Bierkolloiden und verursachen keine Trübung (=Lichtstreuung), da sie viel kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts. Aufgrund ihres Bestrebens, sich vom Wasser abzuwenden, neigen die Moleküle des Mizells dazu, den Verband spontan zu verlassen, sobald sie an ein Bläschen andocken können.

Auch hier gilt wieder: Je kleiner die Bläschen, desto besser, denn desto größer ist ihre spezifische Oberfläche und sie steigen aufgrund des geringeren Auftriebs langsamer auf bzw. verweilen länger im Bier, wo sie die oberflächenaktiven Stoffe aufnehmen und anreichern können. Zum besseren Verständnis eine kleine Rechenaufgabe: Die Kugeloberfläche einer Blase = d2*π, ihr Volumen = d3*π/6. Daraus folgt: 8 Blasen ergeben das gleiche Volumen wie 1 Blase mit dem doppelten Durchmesser, aber die glorreichen 8 ergeben die doppelte Oberfläche!

Zu den angereicherten oberflächenaktiven Stoffen zählen in erster Linie Proteine und Glycoproteine, die durch Bildung einer elastischen Haut schaumstabilisierend wirken. Hopfenbitterstoffe und Gerbstoffe lagern sich in diese Haut ein; aber auch Aromastoffe wie Terpene, höhere Fuselalkohole, Röstaromen und die schwer flüchtigen Melanoidine. Letztere erfahren dadurch im Schaum eine Anreicherung, die eine deutliche Wahrnehmung im Bouquet überhaupt erst ermöglicht.

Die Baristi haben das schon länger erkannt! Die Crema enthält einen Großteil der Espresso Aromen. Um die Ausbildung eines Espresso-Bouquets sicher zu stellen, schreckt man nicht davor zurück, die schaumfördernden, aber geschmacklich unterlegenen Robusta Kaffeebohnen den erlesenen Arabica Sorten beizumengen.

Fluiddynamik

Kohlensäure ist auch in übersättigter Lösung ziemlich stabil. Aber bereits durch Verwirbelungen beim Einschenken wird an kleinsten Unregelmäßigkeiten der Glaswand Kohlensäure freigesetzt. Bei der Ablösung hinterlassen diese Bläschen erneut Turbulenzen; dadurch ausgelöste geringfügige Druckschwankungen bilden schließlich den Quell einer ganzen Blasenkette.

Beim Aufstieg in die Schaumkrone folgt diese Blasenkette der Glasform. Bei höher karbonisierten Bieren werden die Blasen auf dieser Reise wachsen. Kleine Blasen werden durch größere überholt und abgelenkt, was eine Verwirbelung der ganzen Blasenkette auslösen kann. All diese Ablenkungen verlängern den Weg der Blasen durch das Bier.

Endlich in der Schaumkrone angekommen, beginnen die auf der Reise angesammelten Aromastoffe zu verdampfen und können so an der Schaumoberfläche ins Bouquet diffundieren. Fluiddynamisch betrachtet ist das Bouquet zunächst eine dünne Grenzschicht über dem Schaum. Es kann zu einer Wolke anwachsen, bis diese am Glasrand überläuft oder durch Strömungen abgetragen wird.

Glasdesign

Aus diesen Betrachtungen ergeben sich viele Aspekte für die Auswahl des passenden Glasdesigns. Es kommt darauf an, was wir erreichen wollen und wofür wir bereit sind, Kompromisse einzugehen. Als Diplom-Biersommeliere sind wir häufig mit zwei Aufgabenstellungen konfrontiert: Verkostungen zu organisieren oder ein bestimmtes Bier optimal zu präsentieren.

Die Auswahl eines universell einsetzbaren „Prüfmittels“ fällt für mich auf das offizielle Bierdegustationsglas des Verbandes der Diplom-Biersommeliere. Der Geniestreich unserer Pioniere und Gründungsmitglieder weist Merkmale auf, die eine optimale Ausprägung des Bouquets fördern. Die Profilierung mit dem hohlen zylindrischen Schaft, der natlos in die tulpenförmige Kuppa (Schale) übergeht, ergibt auch für kleine Degustations-Mengen ab 30 mL eine Füllhöhe, die eine Ausbildung kontinuierlich strömender Blasenketten ermöglicht. Die maximale Ausbauchung liegt im unteren Drittel der Kuppa und lässt genügend Freiraum für Schaum und Bouquet. Mit 90mL ist dieser breiteste Querschnitt erreicht und mehr darf man für ernsthafte Degustationen niemals einschenken! Die nach oben hin konisch verlaufende Tulpenform fokussiert das Bouquet, sodass wir es beim Nosing über dem erweiterten Glasrand optimal wahrnehmen können.

Wenn’s nur um die Intensivierung des Bouquets ginge, drängt sich die Tulpenform förmlich auf. Bei der Präsentation bestimmter Biere oder Bierstile stehen aber oft andere Aspekte im Vordergrund. Diese können funktioneller Natur sein oder uns visuell auf das bevorstehende Genusserlebnis einstimmen. So werde ich mich beim Anblick eines breiten Pokals auf ein schweres Bier mit wuchtigem Körper einstellen, während eine Stange Kölsch oder Pils den schlanken Körper dieser Biere visualisiert. Für stark karbonisierte, hoch schäumende Biere muss das Glas die Funktion erfüllen, ausreichend Kopfraum für die Schaumkrone zu bieten. Die bekannten kelchförmigen, oben zylindrisch oder bauchig auslaufenden Profile der Weizenbiergläser sind ein gutes Beispiel für die Lösung dieses Problems durch funktionelles Design.

Da das Bouquet nur durch Trinktemperatur und Glasform beeinflussbar ist, sollte stets auf Synergien mit dem primären Designmerkmal geachtet werden. Viele Starkbiere weisen eine schlechte Schaumhaltigkeit auf, weil sich schaumnegative Aromastoffe (z.B. höhere Alkohole) in die stabilisierende Proteinhaut einlagern und diese schwächen. Hier sind breite Glasformen durchaus förderlich, weil die große Oberfläche die fehlende Vergrößerung der Phasengrenze (flüssig / gasformig) kompensiert, die durch eine zusammenhängende Schaumdecke gegeben wäre. Hohe Schaumkronen wiederum, wie sie bei Weizen und Pils auftreten, vertragen schlanke Glasformen, da die Anreicherung und Dampfdruckerhöhung von Aromastoffen im Schaum durch dessen Höhe potenziert wird.

Schlussbemerkung

Mit diesem Artikel erhebe ich keinen Anspruch auf vollständige Erfassung des Themas. Ich beschränke mich nur auf den Teilbereich Aromabildung im Glas und möchte einige Grundlagen näher bringen, die oft übersehen werden. Einige Aspekte sind noch wenig erforscht bzw. mit belastbaren Daten belegt. Nicht jeder Effekt wird sich bei jedem Bier oder jedem Glasdesign gleich auswirken. Es gibt noch viel Optimierungspotenzial!

Quellen:

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